Es ist Anfang Oktober, in rund fünf Wochen legt sich wieder dauerhaft die weiße Stille des Polarwinters über Schwedisch-Lappland, der Heimat der samischen Urbevölkerung hoch oben am Polarkreis. Bis zum ersten Schneefall müssen die Familien, die noch ganz oder wenigstens teilweise von der Rentierzucht leben, alle wichtigen Aufgaben erledigt haben. Bevor die Region endgültig im Zwielicht der Polarnacht versinkt, gilt es, die Tiere zusammenzutreiben und einzelne Tiere für die Schlachtung auszuwählen. Die verschiedenen Hirtenfamilien sind dabei in aller Regel zu Kooperativen zusammengeschlossen, die jeweils klar begrenzte Gebiete in der Weite des Landes „bewirtschaften“. Diese Organisationsform ermöglicht den Sami nicht nur effektive Arbeitsteilungen, sondern spart auch Kosten.
Schutz vor Fressfeinden
Das Foto zeigt einige Vertreter einer Winterherde in der Region um Arjeplog, die zur Osterzeit 2019, dem Zeitpunkt der Aufnahme, aus mehr als 1.700 Tieren bestand. Aus Sicht der Hirten macht es Sinn, die Tiere in der kalten Jahreszeit zusammenzuhalten. So können sie die Tiere viel besser vor hungrigen Räubern wie Vielfraß oder Bär schützen und, sollte es notwendig sein, auch sehr viel einfacher zufüttern. Die fotografierte Winterherde hatte schon eine kleine Odyssee hinter sich: Im Herbst des Vorjahres wurden viele der Tiere per Lkw in Richtung Ostküste verfrachtet. Dort ist es durchschnittlich immer etwas wärmer, was ihnen bei der Futtersuche im Winterwald entgegenkam. In früheren Zeiten hingegen liefen die Tiere über mehrere Tage in die (etwas) wärmeren Gefilde, stets begleitet und angetrieben von Rentierhirten auf Skiern und in Fellen gekleidet. Das klingt ohne Zweifel romantischer, bedeutete jedoch in alter Zeit auch viel mehr Mühsal und Gefahren für Mensch und Tier angesichts der Risiken von Flussüberquerungen, schlechten Sichtverhältnissen und plötzlichen Wetterumschwüngen in einer Welt aus Schnee und Eis.
Ohrmarkierungen helfen bei der Identifikation
Nun, zur Osterzeit, war die Herde zurück. Tiefsttemperaturen von minus 30° C und darunter sind vergessen. Im Mai werden die Kälber geboren. Im Juni und Juli folgt dann die Rentierscheide, die nichts anderes als eine Bestandsaufnahme ist. Von klein auf trainieren die Sami die Identifikation ihrer eigenen Tiere im Gewusel eines Corrals, in dem schnell hunderte Tiere von verschiedenen Familien zusammenkommen. Die Hirten achten dabei besonders auf die Ohren, in denen sich geschnittene Markierungen befinden, die, nach dem Prinzip des Fingerabdrucks, eine unverwechselbare Identifikation ermöglichen. Die neu geborenen Kälber erhalten diese Familienmarkierungen, die mit kleinen Messern ausgeführt werden und die Tiere nicht sonderlich beeindrucken.
Faszinierend ist, wie sicher die Hirten die kleinen Schnittmarken erkennen und auch setzen und wie geschickt sie mit Lassos umgehen, um die Tiere einzufangen. Nach dieser Frühjahrsprozedur wandern die halbwilden Tiere in die Wälder und verbringen dort die wenigen Sommerwochen, bevor sie dann im Herbst wieder zusammengetrieben und erneut in Richtung Küste gebracht werden.
Ein Symbol des hohen Nordens
Abgesehen vielleicht von Moskitos habe ich nie zuvor so viele Tiere einer Spezies um mich herum erlebt. Wie ein einziger geheimnisvoller Organismus erschien mir die Herde, die sich bis zum weit entfernten Waldrand erstreckte und eine eigentümliche Ruhe ausstrahlte. Auffallend ist diese Verhaltensänderung im Vergleich zum Sommer. Dann nämlich halten die Tiere in aller Regel gebührenden Abstand und lassen sich nicht ganz so problemlos fotografieren. Zur Osterzeit hingegen stand ich mit meiner Kamera inmitten einer Herde, die wie kaum etwas sonst den hohen Norden Europas symbolisiert …