Eigentlich wollte ich an diesem Freitagabend Mitte Januar nur noch etwas Schnee vorm Haus wegschaufeln, um so wenigstens für kurze Zeit der angenehmen, aber auch sehr einschläfernden Wärme des Kaminfeuers zu entkommen. Vor der Tür stellte ich jedoch nach einem Routineblick in den sternenklaren Nachthimmel die Schneeschaufel schnell weg. Stattdessen schnappte ich mir eine stets griffbereite Kamera mit lichtstarkem Weitwinkelobjektiv, ein Stativ mit Dreiwegeneiger sowie eine Stirnlampe mit rotem LED-Licht – das Jagdfieber hatte mich gepackt. Ich wollte das Polarlicht Aurora borealis auf meinen Speicherchip bannen, das gerade den Dachgiebel mit einem atemberaubenden grünen Vorhang überzog, der die Leichtigkeit von im Wind tanzender Seide zu haben schien.

Tanz der verstorbenen Seelen

Die Völker des hohen Nordens maßen dem Tanz im Sonnenwind schon immer eine besondere, wenn auch höchst unterschiedliche Bedeutung bei: Die einen sahen in den Nordlichtern Vorboten schlimmer Seuchen oder Hungersnöte, andere meinten, Kämpfe der Götter zu erkennen. Bei den Inuit gelten Polarlichter auch heute noch als Tanz der verstorbenen Seelen. Die Sami Schwedens, Finnlands und Norwegens deuten sie häufig als ein rachsüchtiges Wesen, das man keinesfalls zu lange Anstarren oder gar Anpfeifen dürfe, da es das als Beleidigung empfinden könnte. Namenspatronin des Naturphänomens ist Aurora, die römische Göttin der Morgenröte.

Sonnenwinde entzünden das Himmelsfeuer

Geophysikalisch gesehen handelt es sich um Sonnenwinde, die aus Strömen geladener Teilchen – Protonen und Elektronen – bestehen. Diese entstammen der äußeren Atmosphäre der Sonne (Korona). Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 800 Kilometern pro Sekunde rasen sie in Richtung Erde. Hier treffen sie, immer noch 50 000 Kilometer entfernt,  auf die Magnetosphäre, die ein nahezu unüberwindbares Hindernis für die geladenen Teilchen darstellt. Die Magnetfeldlinien des irdischen Magnetfelds werden aufgrund des ungeheuren Ansturms der Sonnenwinde vor der Erde zusammengepresst. Auf der Nachtseite unseres Planeten, also der Rückseite, werden die Magnetfeldlinien hingegen zu einem tanzenden Schweif ausgezogen, der mehrere 100 000 Kilometer lang ist. Dieser Schweif, der im Wesentlichen wie ein abschirmender Schild funktioniert, ist jedoch durchlässig. Im Ergebnis können die weit gereisten Sonnenteilchen einsickern und strömen spiralförmig in Richtung der beiden magnetischen Pole. Ihr Zusammentreffen mit Gasteilchen der Erdatmosphäre führt schließlich zu einer Energieabgabe. Im Ergebnis entsteht ein Überschuss an Energie, den unsere irdischen Elektronen, zum Beispiel in Sauerstoffatomen, nur kurzfristig halten können. Sie strahlen es in Form von Licht wieder ab. Meist erscheint es grün, aber auch rote und blau-violette Färbungen habe ich schon beobachtet.

Ruhe und Stille

Nur rund 30 Minuten stehe ich an diesem nicht allzu kalten Abend vor der Tür und richte die Kamera in den Himmel. Nach einer Weile muss ich mich zwingen, nicht nur fortlaufend neue Fotos zu schießen, sondern auch zu genießen. Es gilt, den Jagdtrieb einzuhegen. Folglich mache ich Kamera und Stirnlampe aus und erlebe einen kostbaren Augenblick voll innerer Ruhe und äußerer Stille. Nur der Schnee knirscht unter den Stiefeln, und ich nehme meinen Atem bewusst war. Während das Himmelsschauspiel langsam verblasst, kommen mir erste Gedanken an den wärmenden Kaminofen. Den Schnee räume ich morgen weg.

Foto: Nordlicht, Schwedisch-Lappland. Canon EOS 6D Mark II, f/4L IS USM, 16-35 mm, 35 mm, 1.60 sec, f/4.0, ISO 1600, Stativ.

zurück zur Übersicht