Während meiner Tätigkeit als Redakteur rief ich die Zeitungskolumne „Neulich“ ins Leben, in der ich mich wöchentlich den kleinen und großen Dingen des Lebens mit einem Augenzwinkern widmete. Immer wieder stand dabei die Aufzucht unseres Nachwuchses im Mittelpunkt.
Eine aufregende, wunderschöne und auch anstrengende Phase unseres Familienlebens, zu der ich heute, mit einigen Jahren Abstand, sagen kann, dass Kinder die besten Zeitmaschinen der Welt sind. Jedenfalls war das mein erster Gedanke, als ich die Texte erneut las. Hier eine kleine Auswahl von „Neulichs“.
Zum Weltraum und noch viel weiter
Achtung!!! Diese kleine einleitende Warnung scheint mir diesmal angebracht, denn heute wird es ziemlich gefühlsduselig und melancholisch zugehen. Falls Ihnen gerade nicht danach ist, weil Sie vielleicht heute Abend auf eine Party gehen oder ein Sonnenbad im lauschigen Garten lockt, heben Sie sich diesen Text besser für einen dieser grau-nebligen Novembertage auf, an denen sowieso alles egal ist …
Unser Großer stand neulich im Arbeitszimmer an meinem Schreibtisch: „Papa, können wir zusammen spielen?“ Ich hätte fast Nein gesagt, ihn abgewimmelt, da ich ja so viel Wichtiges zu tun hatte. Telefonate führen, Rechnungen prüfen, einen Artikel fertig schreiben.
Doch wie er da so vor mir stand, mit seinem roten Käppi, unter dem ich stets meine braunen Augen erkenne, und in seiner kurzen Hose, die den Blick freigab auf ein verschrammtes Knie und grün-blau geprellte Schienbeine, wie sie wohl nur Jungs in seinem Alter haben können, ließ ich die Arbeit einfach liegen. Nie mehr würde er fünf Jahre und neun Tage alt sein. Wir sollten den Moment nutzen. Hier und jetzt.
Also legten wir uns auf den Kinderzimmerteppich und parkten gemeinsam seine 6.000 Spielzeugautos. Ich beantwortete auch alle drängenden Fragen zu den stärksten Raubtieren, größten Dinos, tapfersten Indianerhäuptlingen und schnellsten Rennwagen. Eine Stunde nur. Mein Sohn hörte mit ganzer kindlicher Ernsthaftigkeit zu, strahlte und kuschelte sich an. Kurz: Wir gaben uns dieser geheimnisvollen „Vater-Sohn-Sache“ hin, über die sonst immer nur in jenen Erziehungsratgebern spekuliert wird, die die Freundinnen einer Freundin meiner Frau empfohlen haben.
Als ich schließlich aus dem Zimmer ging, gab mir mein Sohn seine Erkenntnis mit auf den Weg: „Papa, ich habe Dich lieb bis zum Weltraum!“ Wie konnte ich vor nur sechzig Minuten glauben, die Erledigung meiner Arbeit sei heute das Wichtigste?
Neben dem Computerbildschirm steht ein Bild von unserem Filius: Ein winziger Säugling, der mit hochrotem Kopf schreit und die kleinen Hände zu Fäustchen ballt – im kommenden Jahr werden wir bereits seine erste Schultasche kaufen.
Ich denke an die Worte eines kanadischen Trappers aus dem filmischen Kleinod “Picture of Light” (Regie: Peter Mettler), der hoch im Norden in einer einsamen, harten und unnachgiebigen Wildnis lebt und dennoch oder gerade deshalb vom Leben so viel mehr versteht als die meisten von uns: „Wenn ein Mensch 100 Jahre alt wird, lebt er 36.500 Tage. Klingt unheimlich viel, nicht? Ziehen wir ein Drittel ab zum Schlafen, bleiben 24.000 Tage. Noch ein Drittel geht drauf fürs Erwachsen- und Altwerden, dann bleiben noch 16.000 Tage. Wenn man dann weiß, was man tun will, bleiben vielleicht noch 8.000 Tage übrig. Jeder davon muss maximiert werden. 8.000-mal kann man ausgehen, einkaufen gehen, Sex haben, eine Party feiern. Nach ein paar Jahrzehnten bleiben noch 30, 40 Seasons für die Gänsejagd übrig. Klingt nicht nach viel. Jahre lassen es nach einer langen Zeit klingen. 30 Jahre …, aber das sind nur 10.950 Tage. Das ist gar nichts. Keine Zeit.“
Tagesbericht
„Die Familie ist in Ordnung, wenn man den Papagei unbesorgt verkaufen kann“, wusste schon der amerikanische Humorist und Schriftsteller Will Rogers (1879-1935). Nun, selbst wenn wir in unserer Familie einen derartigen gefiederten Mitbewohner hätten – auf Stoff zum Ausplaudern hätte er in den vergangenen drei Wochen vergeblich gewartet: Gattin, Sohnemann und Töchterchen waren nämlich auf Reisen. Was für ein Frieden im Haus! Was für eine Ruhe ohne Nachwuchs! Keine Dreijährige, die sich schon frühmorgens über zu heiße Milch beschwert, nur um anschließend mit großem Ernst darüber zu diskutieren, ob die von Papa ausgewählten Zopfgummis farblich auch wirklich zum T-Shirt passen.
Keine lautstarken Unschuldsäußerungen vom sechsjährigen Filius, der sich mal wieder gar nicht erklären kann, warum erstens Tomatensoße unsere Küchenfliesen verschönert und zweitens seine kleine Schwester schon wieder weint. Jaaa, ich verlebte drei herrlich ruhige und mit Entspannung angefüllte Wochen – sogar die Tagesschau um 20 Uhr war drin! Nur mit einem Problem hatte ich zu kämpfen: Es war zu ruhig und zu entspannt. Nicht mal Tomatensoße auf den Fliesen (außer meiner eigenen). Etwas fehlte! Kein Nachrichtensprecher der Welt kann die Leere des Raumes so unterhaltsam füllen wie die stets aktuellen Tagesberichte unserer Kinder.
Kaum drehe ich nach einem Bürotag den Schlüssel in der Wohnungstür, geht es los: „Papaaa ist da! Lukas, Mama, der Papaaa! Hast Du uns was mitgebracht? Ich habe heute im Kindergarten gar nicht geweint. Guck mal, mein neues Tatuuu-Bild! Zwei Jochhurts habe ich gestern – heute Mittag – gegessen. Und sieben Nudeln, nein fünf. Papa, hast Du uns auch wirklich nichts mitgebracht? Frag’ Mama, ich war heute in echt lieb! Neun Nudeln habe ich gegessen! Und Lukas war auch lieb. Nur einmal hat er mich geschubst, aus Versehen aber. Lukas hat seinen Jochhurt nicht geschafft. Ich habe meinen ganzen Teller verputzt. Alle Nudeln sind weg. Nur eine einzigste ist auf den Boden geplumpst. Oma hat angeruft. Warum hast du uns nichts mitgebracht?“
Soweit der Rapport unserer Tochter. Aus Gründen des Textverständnisses verzichte ich an dieser Stelle auf die Einlassungen unseres Sohnes, der natürlich immer parallel zu seiner Schwester berichtet. Ja, dieses Kinderchaos hat mir gefehlt. Ich werde mich nun verstärkt mit den Kleinen beschäftigen – meine Frau benötigt nach dem Urlaub eindeutig Urlaub.
Schlaft schön!
Schon der gute Heinrich Heine wusste, dass „der Schlaf die köstlichste Erfindung ist“. Vor dem Hintergrund dieser wichtigen Erkenntnis muss ich mir nun zusammen mit meiner Frau den Vorwurf machen, dass wir unseren Kindern, dem fünfjährigen Lukas und der dreijährigen Lena, den Klassiker deutscher Dicht- und Erzählkunst in diesem entscheidenden Punkt bislang nicht näher gebracht haben.
Anders kann ich mir jedenfalls nicht das Attentat unseres Großen erklären, der neulich um drei Uhr nachts im Schlafzimmer stand und uns mit der Frage weckte, ob denn der Nikolaus jetzt endlich mit Geschenken gekommen sei – am 18. November! Erstaunlich ist, wie schnell man in einer solchen Situation pädagogisch wertvolle Grundsätze über den Haufen wirft …
Gut, früher, in dieser seligen Zeit, als sich der Nachwuchs ausschließlich aufs Brabbeln, Futtern, Windeln vollmachen und Schlafen im Vier-Stunden-Rhythmus (wenn’s gut lief) konzentrierte, da gehörte es zur Routine – dass meine Frau aufstand. Es waren ja schließlich Babys. Da schlägt man (na gut: frau) sich quasi mit der Konsequenz eines Naturgesetzes die Nächte um die Ohren. Doch heute? Der Junge kommt bald in die Schule. Wir erwarten etwas mehr Rücksichtnahme auf die schwer arbeitenden Ernährer!
Mit viel Geduld und sehr ausführlich haben wir ihm zum Beispiel die Vorgehensweise im Falle eines nächtlichen „Puller-Alarms“ vermittelt, bei dem wir nun endlich nicht mehr gebraucht werden wollten.
Also: Das kleine Licht am Bett anmachen, die Leiter vorsichtig und äußerst leise herunterklettern, damit die kleine Schwester nicht wach wird, dann die Lampe im Bad anknipsen, den Toilettendeckel (ebenfalls) leise hochklappen und so weiter und so fort.
Was macht nun der äußerst clevere Portius junior? Er steht in tiefschwarzer Nacht wiederum im Schlafzimmer und verkündet voller Stolz, dass er soeben das kleine Licht am Bett angemacht habe, die Leiter schön leise heruntergeklettert sei, dann die Lampe im Bad angeknipst und sogar den Deckel sanft behandelt habe …
„Gute Nacht Mama, gute Nacht Papa“, lautet sein abschließender und aufrichtiger Wunsch, bevor sich die elterliche Schlafzimmertür wieder schließt, nur um nochmals für einen wichtigen Hinweis geöffnet zu werden: „Lena ist gar nicht wach geworden!“
Mohnköpfe und Doppelkorn
Ich gebe es unumwunden zu. Im Laufe unseres nunmehr schon acht Jahre andauernden Aufzuchtprogramms „Lukas und Lena P.“ erreiche ich zusammen mit meiner Frau immer mal wieder den Punkt, an dem die Nerven blank liegen.
Wir haben dann einfach keine Energie mehr für Diskussionen, die am frühen Montagmorgen meistens so beginnen: „Mama, ich setze die Mütze nicht auf, die ist total doof. So gehe ich nicht in den Kindergarten!“. Beliebt ist auch der Klassiker „Papa, Lena ärgert mich immer. Ich habe aber gar nichts gemacht, ihre Puppe ist von ganz alleine kaputt gegangen!“, der besonders gerne während einer vielstündigen Autofahrt aufgeführt wird. So geht das Tag für Tag, Woche für Woche und auf jedem Ausflug. Mal ist der elterliche Typberater gefragt, dann wieder der Richter oder Polizist – anstrengende Rollenwechsel. Irgendwann denke ich dann über ganz klitzekleine Betäubungspillen für unsere „lieben Kleinen“ nach. Meine Verkaufsargumente sind klar: „Kommt, ich habe hier leckere bunte Bonbons, die schmecken Euch bestimmt. Und wenn wir in vier Stunden bei Oma und Opa sind, dann seid Ihr wieder wach, gut ausgeschlafen und bestens gelaunt …“ Ein wahrer Elterntraum, oder?
Ganz so weit hergeholt ist dieser Wahnsinnsgedanke übrigens nicht. Eine Abhandlung an der Universität Salzburg zum Thema „Kindheit im Mittelalter“ listet zum Beispiel auf, wie man bei Filius und Co. in der Zeit von etwa 1250 bis ca. 1500 den Ausknopf betätigte.
„Weiters gab man den Kindern Opium und Likör, um sie ruhig zu halten. Bekannt ist das leinene Lutschbeutelchen mit Mohn, das die Babys in eine Dauerschläfrigkeit versetzte. Sobald dieser allgebräuchliche ,Zulp’ oder ,Lutschbeutel’ nicht mehr genügte, die Kleinen zur Ruhe zu bringen, wurde das unruhige Kind entweder mit Branntwein eingerieben oder mit einer Abkochung von Mohnköpfen getränkt.“
Na, da geht es schon los! Mohnköpfe haben wir recht selten im Vorratsregal, aber ob ich meinem allzeit ausführlich quasselnden Töchterchen und dem, sagen wir, stets lebhaften Sohnemann statt abendlichem Badeshampoo einfach mal ein Fläschchen Doppelkorn für die Körperpflege vorschlage? Besonders in der Karnevalszeit soll solches Verhalten bei Erwachsenen ja heute immer noch praktiziert werden. Und nach allem was man so hört, sind die angemalten Karnevalisten in Köln oder sonst wo mehrere Tage lang recht glücklich damit.
Abgesehen natürlich von kleineren Schlägereien unter Alkoholeinfluss, die ganz traditionell in den schmalen Seitengassen am Rande der Rosenmontagszüge stattfinden. Sollten Sie, liebe Erziehungsberechtigte, einmal Lust auf derartige kulturelle Erfahrungen haben, lassen Sie es aber bitte nicht so weit kommen, dass „Knochen verrenkt“, „Augen ausgekratzt“ oder „Ohren abgerissen“ werden.
Solche Beschädigungsbestrebungen unterstellte man im Mittelalter lieber Säuglingen. Eltern wickelten ihre Zöglinge deshalb häufig im Stile einer Mumie bis zur Bewegungsunfähigkeit ein. Ein durchaus komplizierter Vorgang, der in alter Zeit bis zu zwei Stunden in Anspruch nahm. Heute lässt sich Ähnliches allenfalls beim „lieben Enkelkind“ beobachten, wenn Omas selbst gestrickter Pullover etwas zu klein ausgefallen ist. In einem solchen Falle habe sogar ich Verständnis, wenn der Montagmorgen so beginnt: „Papa, ich ziehe den Pulli nicht an …!“
Meine Frau ist dafür verantwortlich!
Reden wir heute über Vererbung. Sie wissen schon, ich meine jene geheimnisvollen Gesetzmäßigkeiten der Natur, die dafür sorgen, dass unerwünschte Eigenschaften der Kinder immer vom anderen Elternteil stammen.
Nehmen wir als Beispiel unsere zweieinhalbjährige Tochter, die ohne Zweifel und objektiv gesehen ebenso süß wie clever ist. Sie hat halt sehr viel vom Papa. Nur in einem Punkt komme ich ernsthaft ins Grübeln.
Unser Mädchen erzählt nämlich sehr viel. Präziser: Sie quasselt ununterbrochen. Und das hat sie definitiv nicht von mir. Irgendwo in der mütterlichen Vererbungslinie hat ganz offensichtlich jemand zu oft „Hier!“ gerufen. Meiner Frau gegenüber lasse ich diese gesicherte Erkenntnis natürlich nicht durchblicken. Ich sag’s ja: Reden ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung, und im Übrigen favorisiere ich ein möglichst harmonisches Eheleben …
Nun sind wir prinzipiell natürlich sehr stolz auf unsere Zweitgeborene, nicht zuletzt lässt sich mit ihr auf dem Spielplatz in Hörweite von “Dadadada-Eltern“ – die Sprösslinge im gleichen Alter auf der Schaukel sitzen haben – wunderbar punkten (dieser zugegeben etwas billige Triumph bleibt aber unter uns):
„Papa, darf ich bitte das, den neuen roten Eimer, den Mama mir gekauft hat, als wir übermorgen, vorher beim Kinderarzt waren, auf dem der Babybär und Mama Bär drauf gedruckt sind, der an der, der Wippe liegt, auf der Lukas gerade rumturnt, was er ja nicht darf, weil er runterfallen kann und sich dabei weh tut, tun kann, haben?“
So geht das den ganzen Tag. Wobei ich zugeben muss, dass der Satz geschönt ist: „Darf ich bitte“ muss unbedingt durch „ich will“ ersetzt werden.
Dieser Redeeifer, die ständig eingeforderte Empfangsbereitschaft („Papa, hör’ mir doch mal zu!“) führt im Ergebnis dazu, dass ich schon morgens den Nachwuchs mit Badeschlappen in den Kindergarten fahre, mein Handy an der heimischen Steckdose lädt und lädt und immer noch lädt, ich beim sonntäglichen Familienausflug mit schöner Regelmäßigkeit die richtige Autobahnausfahrt verpasse, Einkaufszettel auf dem Küchentisch liegen lasse und auch sonst häufig nicht mehr weiß, was ich gerade tun wollte („Papa, das kann ja wohl nicht sein!“). Trotzdem: Sie ist so süß, unsere kleine Quasselstrippe. Deshalb neige ich nun auch dazu, meiner Frau zu verzeihen. Die Frage ist nur, ob ich ihr das auch sage …
Injektionsfee
„Ach, Papa, Du hast ja wirklich gar keine Ahnung“, so das vernichtende Urteil meines Fünfjährigen, der sich neuerdings voller Aufopferung bemüht, mich in die tieferen Geheimnisse seiner Yu-Gi-Oh-Karten einzuweihen.
Yu-Gi-Oh? Hört sich irgendwie nach einer fernöstlichen Leckerei an, die laut Rezept auf einen ordentlichen Happen Hund nicht verzichten kann, oder? Tatsächlich sind es aber kleine Kärtchen, auf denen die seltsamsten Monster abgebildet sind. Phantasiegestalten, die ich mir schon in den seligen Zeiten nicht ausdenken konnte, als zusammen mit Freunden fünf Tage hintereinander Junggesellenabschied gefeiert und schon morgens die Mundhygiene mit einem gut gekühlten Pils sinnvoll unterstützt wurde …
Keine Ahnung warum, aber unser Sohnemann liebt diese hässlichen Ausgeburten pfiffiger Verkaufsstrategen, die es ja doch nur wieder auf das gute Geld von Mama und Papa oder gerne auch Oma und Opa abgesehen haben. Erklären Sie das aber mal einem Filius, der seine Karten mit großem Eifer hütet und immer noch mehr haben möchte.
Worum es in dem Spiel geht? Mein Sohn hat völlig Recht, ich habe wirklich keinen blassen Schimmer! Er allerdings auch nicht. Die Erklärungstexte auf den Karten kann er noch nicht lesen – für ihn sind die Bilder wichtig.
Das Buchstabenmanko hindert ihn aber nicht daran, seine eigene Regeln zu basteln, die stets, oh Wunder!, zu einer vernichtenden Papa-Niederlage führen.
Auf einer ominösen „Hinweiskarte“ des Spiels heißt es: „Wenn du Monster magst, die schwer zu zerstören sind, solltest du versuchen, mit Ninja-Monstern zu spielen. Diese Karten verlangen das Bezahlen von Life Points, weil sie mächtig sind. Injektionsfee Lily ist ein solches Monster.“
Noch Fragen? Ich habe schon noch einige: Nimmt das Seelengebäude des Stammhalters ernsthaft Schaden? Wird er später anstatt Atomphysiker oder wenigstens Autoverkäufer womöglich Politiker? Nicht auszudenken! Andererseits: Ich bin ja auch mit Kärtchen groß geworden und darf heute sogar in dieser Kolumne dilettieren …
Auf meinen Karten waren allerdings immer Fußballer drauf, die Sepp Maier, Günther Netzer oder Gerd Müller hießen. Gut, ausgemachte Schönlinge blickten mich da auch nicht an, doch von Monstern waren sie in aller Regel weit entfernt. Eine Ausnahme gab es allerdings: Ein Spieler namens Horst Hrubesch, der spielte damals beim HSV und wurde gerne „Kopfballungeheuer“ genannt.
Hirnprobleme
Ich habe zum Glück eine recht stabile Psyche. Und das ist auch gut so. Ansonsten hätte mich die seit Monaten anhaltende und überaus vernichtende Niederlagenserie gegen meinen fünfjährigen Sohn wohl schon längst in die Verzweiflung getrieben. Kennen Sie das auch? Immer wieder versuche ich, gegen den Sprössling im „Memory“ zu gewinnen. Sie wissen schon, ich meine jenes Spiel, bei dem man sich merken muss, wo zum Teufel die passenden Bildpaare liegen.
Mein Hirn ist bei diesem Spiel aber offensichtlich keine ausreichende Hilfe mehr, um das diebische Siegergrinsen meines kleinen Gegners wenigstens im Ansatz unterdrücken zu können! Langsam ist nun in mir die Erkenntnis gereift, dass, wenn man nicht gerade eine herumchaotisierende Schnarchnase im Kinderzimmer wohnen hat, sich am Ausgang dieses Spiels auch nichts mehr ändern wird.
Ein fünf Jahre alter Kopf ist einfach in punkto Aufnahmefähigkeit auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit, während ich mir wohl mal langsam irgendwo notieren sollte, wie man denn eigentlich Gemüsebrühe löffelt …
Um meine Papa-Frustration in Grenzen zu halten, lade ich den Merkmeister hin und wieder zu einer Partie Minigolf ein oder schieße mit ihm aus dreißig Metern aufs Tor.
Hier habe ich noch Koordinations- und auch Kraftvorteile, doch ich ahne bereits in einigen wenigen Jahren das Ende meiner Überlegenheit.
Absolut unumstritten bin ich in seinen Augen dafür noch im beliebten Bereich „abendliche Reparaturarbeiten“. Ich möchte nicht wissen, wie viele Kilogramm Klebstoff in unserem Hause in den vergangenen Jahren verbraucht wurden, um abgerissene Spoiler an Spielzeugautos („Papa, der ist einfach auf der falschen Seite gefahren!“), gekürzte Pferdebeine („Papa, das war nicht meine Schuld, der böse Ritter war’s!“) oder die arg gerupfte Indianer-Federhaube zu flicken („Papa, das war ein Angriff. Ich konnte nichts machen. Ehrlich!“).
Doch allzu lange darf ich mich nie in der Wärme seiner Anerkennung sonnen. Sehr schnell kommt sie wieder, diese eine Frage: „Papa, spielen wir Memory?“ Neuerdings gibt’s für den Unerbittlichen sogar noch Verstärkung: „Ich will auch mitspielen und gewinnen!“, fordert die kleine Schwester triumphierend. Ob sie wohl vorher ein bisschen Lust auf Torschusstraining hat?
Adlerfedern auf dem Kopfkissen
Ich bin neuerdings Experte für Saurier. Kein Quatsch. Mir ist der Pteranodon, ein großer und wendiger Flugsaurier, ebenso ans Herz gewachsen wie der Triceratops mit seinen modischen Hörnern und dem beeindruckenden Nackenschild. Ich kann mittlerweile ohne Probleme einen Fleisch- von einem Pflanzenfresser unterscheiden und darüber philosophieren, wer wohl stärker war.
Das etwas verschüttete Schulwissen ist nun wieder mit Daten zum Alter des Sonnensystems (etwa 4,6 Milliarden Jahre) und um die drei Perioden des Erdmittelalters (Trias, Jura und Kreide), die große Zeit der Dinos, aufgefrischt.
Und wem habe ich das zu verdanken? Meinem vierjährigen Söhnchen, der Namen wie Compsognathus, Tyrannosaurus Rex und Brachiosaurus so souverän runterbetet wie der Papa einst die Namen der Weltmeister von 1974: Vogts, Breitner, Beckenbauer, Hölzenbein, Overath …
Hat sich im Grunde also nichts geändert: Während ich einst die Fußballschuhe vor dem Bett geparkt hatte, schlummert heutzutage beim Sohnemann halt ein niedlicher Plastiksaurier auf dem Kopfkissen. Eigentlich alles kein Problem, schließlich möchten wir als verantwortungsvolle Eltern den Wissenschaftlernachwuchs nach Kräften unterstützen.
In der vergangenen Woche hatte der kleine Paläontologe allerdings eine ganz tolle Idee: „Papa, ich brauche ein Fleischfresser-Kostüm für Karneval!“ Wo zum Teufel bekommt man das denn her? Der erste Impuls war, meine Frau in ein geeignetes Museum zu schicken. Irgendwie muss man doch ein Schnittmuster von den Viechern malen können, um dann mit der Nähmaschine …
Der Blick meiner Gattin reichte, um diese Idee nicht weiter zu verfolgen. Also besann ich mich wieder auf die eigene Kindheit, die neben Fußball ja auch noch aus der großen weiten Welt des Wilden Westens bestand. Wir kramten die entsprechenden Bücher hervor und erzählten vom tapferen Sitting Bull, rasend schnellen Indianerpferden und gefährlichen Büffeljagden. Und es hat geklappt! Unser Sohn marschiert jetzt als Häuptling in den Kindergarten und die kleine Schwester – ein netter Nebeneffekt – als Cowgirl. Die Ausstattung gab es ohne Probleme im Supermarkt an der Ecke. Auf dem Kopfkissen des Stammhalters liegen jetzt allerdings ein Dino, ein Tomahawk und Adlerfedern …
Waagschale des Lebens
Neulich bin ich auf eine interessante Statistik gestoßen. Unter der Überschrift „Was verkürzt unser Leben? – Mittlere Verringerung der Lebenserwartung in Tagen durch verschiedene Risiken“ gab es einige erstaunliche Zahlen.
Wussten Sie zum Beispiel, dass Spaziergänge auf der Straße das Leben statistisch gesehen um 37 Tage verkürzen? Armut schlägt mit minus 700 Tagen zu Buche und Zigaretten rauchende Frauen müssen ganze 800 Tage abziehen. Da fallen Kaffee trinken (sechs Tage weg) und der Genuss der Anti-Baby-Pille (minus fünf) wohl kaum ins Gewicht.
Den Vogel schießen allerdings Männer ab, die unverheiratet sind: Um rund 3.500 Tage verkürzt sich ihr Leben. Frauen, die ohne Trauschein durchs Leben wandeln, scheinen sich das nicht ganz so zu Herzen zu nehmen: Lediglich 1.600 Tage sollten sie abziehen.
Nun kann man speziell als Kind des Ruhrgebiets genüsslich spekulieren, was einem sonst noch Lebenszeit klaut. Wie sieht es zum Beispiel mit leidgeprüften männlichen Fans des VfL Bochum aus, die eine Dauerkarte fürs Ruhrstadion besitzen und auch sonst kaum ein Auswärtsspiel verpassen? Hier scheint mir der Abzug von pauschal 6.300 Tagen angebracht. Kleiner Tipp: Singles arrangieren vor dem kommenden Match noch schnell eine Hochzeit und specken ab.
Ein Übergewicht von 20 Prozent bedeutet nämlich eine Verkürzung von 900 Tagen. Anders ausgedrückt: Diesen Sportskameraden entgehen allein wegen ihrer Naschsucht am Ende rund drei Spielzeiten der 2. Liga – was allerdings (ganz im Vertrauen) für VfL-Fans durchaus eine Erlösung sein kann.
Wenn sie jetzt noch im Stadion aufs Bierchen verzichten (Alkohol minus 130), im Berufsleben konsequent den Kohlebergbau meiden (minus 1.100 Tage) und sich nicht vorher umbringen (Abzug von 95 Tagen), ist ein Besuch im Fußballtempel an der Castroper Straße fast schon ohne Gefahr möglich.
Wie gehe ich persönlich mit solchen Zahlen um? Nun, ich favorisiere die Mischkalkulation. Zwar habe ich wohl etwas Übergewicht, wage mich gelegentlich auf die Straße und muss aus beruflichen Gründen ins Stadion, doch ich kann immerhin meine Ehefrau in die Waagschale des Lebens werfen. Apropos Frau: Es gibt ja viele Kulturen, in denen das Familienoberhaupt gleich sechs Gattinnen hat. Das macht ein statistisches Plus von rund 21.000 Tagen – also etwa 57 Jahren. So rechnet man! Ich werde nun dieses Ansinnen mal meiner Frau vortragen, schließlich habe ich gute Argumente auf meiner Seite. Mal sehen, wie es mir nach dem Gespräch gesundheitlich geht …